13.10.2023 - 13:31
20 Jahre nach Carson: Ex-Nationalspielerin blickt zurück und voraus
Künzer über ersten WM-Titel 2003: "Spielten morgens um 5 auf einem Parkplatz"
Ihren Job als ARD-Expertin gab sie unlängst auf, den Fußball behält sie weiterhin im Blick. Mit dem kicker schaut Nia Künzer zurück auf den ersten WM-Titel der DFB-Frauen. Dieser jährt sich an diesem Donnerstag zum 20. Mal.
Blick zurück auf die WM 2003 und den ersten Titel: Nia Künzer. IMAGO/Ulrich Hufnagel
Ende Juni fanden Sie und das Gros der restlichen Weltmeisterinnen sich mal alle zusammen. Welche Erinnerungen kamen da hoch, Frau Künzer?
Zuallererst war es eine sehr schöne Idee. Mit dem Team hatten wir uns gar nicht getroffen in all der Zeit. Zumindest die meisten mal wiedergesehen zu haben, um dann festzustellen, wie sehr so ein Erlebnis verbindet, war sehr schön. Tina Theune hatte ein paar Fotos dabei. Manche Dinge hat man gar nicht mehr so präsent, und wenn man dann miteinander spricht, kommen viele Details noch mal hoch.
Fangen wir ganz vorne an: Für Sie war es schon ein Erfolg, überhaupt im Kader zu stehen nach Ihrem damals schon dritten Kreuzbandriss.
Absolut. Überhaupt die Vorbereitung mitmachen zu können, war toll. Wir haben wochenlang hart gearbeitet. Bei den Sprints war ich gut dabei, nicht aber in Sachen Ausdauer. Also musste ich nach dem ohnehin schon langen Training, das teilweise zweieinhalb Stunden gedauert hat, immer noch sehr lange auslaufen. Morgens konnte ich manchmal kaum aufstehen wegen der Gliederschmerzen (lacht). Wenn man sich so gequält hat, will man natürlich auch mitfahren. Das hat dann zum Glück geklappt.
Sie waren Teil eines Aufgebots, das mit vielen prominenten Namen besetzt war. Spielerinnen wie Maren Meinert, Bettina Wiegmann, Silke Rottenberg oder Brigit Prinz - um nur ein paar zu nennen - , die für den deutschen Fußball der Frauen eine große Bedeutung besitzen.
Trotzdem sind wir nicht als der große Favorit angereist. Bei uns hat in diesem Jahr alles gepasst, jedes Puzzleteil. Wir hatten tolle Fußballerinnen und viele Typen im Kader. Maren Meinert war eine großartige Fußballerin, die Zeichen setzen konnte. Bettina Wiegmann spielte mit ihrer sehr ruhigen Art seit Jahren beständig auf ganz hohem Niveau. Silke Rottenberg machte im Halbfinale gegen die USA (3:0) vielleicht das Spiel ihres Lebens. Birgit Prinz zeigte ihre einmalige Dynamik und Effektivität vor dem Tor. Kurzum: Jede von uns hat schlicht und ergreifend das eingebracht, was sie einbringen konnte. Auf, aber auch neben dem Platz.
Es gab die sogenannte "Let's fetz"-Gruppe, in der die Ersatzspielerinnen noch mal separat trainierten. Dazu gehörten auch Sie. Wie ging es dort zu?
Zum einen versuchten wir natürlich, uns anzubieten. Zum anderen probierten wir alles, um von außen positiv einzuwirken. Das Paradebeispiel war das Halbfinale gegen die USA, den Gastgeber. Da gab es keine einzige Einwechslung. Trotzdem war es sehr, sehr intensiv für uns auf der Bank. Nachher haben wir selbst von den Spielerinnen auf dem Feld die Rückmeldung bekommen, dass sie uns wahrgenommen hatten, dass es ihnen geholfen hatte, in diesem Stadion, mit diesem Publikum, das komplett gegen uns gewesen war und fest mit einem Sieg der USA gerechnet hatte. Das ist eines der Spiele, das mir immer noch Gänsehaut bereitet, obwohl ich keine einzige Sekunde auf dem Platz stand. Jede hatte sich dem großen Ziel verschrieben - das macht ein Team aus.
Was zeichnete Bundestrainerin Tina Theune aus?
Sie war sehr, sehr akribisch, fleißig und analytisch. Sie hatte Videosequenzen vorbereitet, die uns teilweise bis zum Abwinken gezeigt wurden. Damals waren es keine einfachen Bedingungen - wir hatten keine Scouts, keine Athletiktrainer, ab und an war mal ein Torwart- oder ein Defensivtrainer dabei, ansonsten machten Tina und Silvia Neid (die damalige Co-Trainerin, d. Red.) alles selbst. Mit ganz viel Hingabe und Engagement. Heute noch habe ich zu Tina immer mal wieder Kontakt. Sie ist ein ganz wunderbarer Mensch und nach wie vor eine absolute Expertin. Ich zähle absolut auf ihre Meinung - egal in welchem Bereich.
Im Turnier gelang Deutschland ein glatter Durchmarsch - sechs Siege in sechs Spielen. Dennoch galt es, verschiedene Widerstände und Rückschläge zu überwinden.
Ein paar Themen waren da schon. Wir mussten mit viel Reisestress umgehen, spielten in Columbus, Washington, Portland und Carson. Im ersten Spiel gegen Kanada (4:1) gerieten wir gleich in Rückstand. Und gegen Argentinien (6:1) riss sich Steffi Jones, die von großer Bedeutung für uns war, das Kreuzband. Vor allem das drückte natürlich auf die Stimmung. Für Steffi war es furchtbar. Trotzdem sind wir fokussiert geblieben.
Wie erinnern Sie sich an das Finale gegen Schweden? Schon um zehn Uhr Ortszeit ging es damals los.
Für den TV-Markt in Europa war das natürlich von Vorteil, für uns aber durchaus skurril. In Carson waren wir in einem Gewerbegebiet untergebracht. Und um die eingeübten und erfolgreichen Abläufe auch vor diesem Finale einzuhalten, standen wir morgens um 5 Uhr auf und spielten fünf gegen zwei auf einem Parkplatz oder Parkdeck. Quasi mitten in der Nacht (lacht).
Wie erging es Ihnen in der Partie? Sie warteten bis zur 88. Minute auf Ihren Einsatz.
In meiner Erinnerung stand das Finale auf Messers Schneide. Von außen war es kaum auszuhalten. Allerdings, und jetzt kann ich es ja sagen: Meine Gefühle waren damals durchaus zwiespältig. Ich wollte zwar irgendwie dabei sein, es war aber nicht so, dass ich es mir sehnlich gewünscht habe, jetzt endlich eingewechselt zu werden. Die Anspannung war einfach sehr groß. Als mich Tina dann rief, gab sie mir noch den guten Hinweis: Sieh zu, dass hinten keins fällt und mach vorne eins (lacht). Da war der Druck noch mal größer. Und dann ging es los.
Flanke Renate Lingor, Kopfball Künzer - Ihr Golden Goal in der 98. Minute, zehn Minuten nach Ihrer Einwechslung, ermöglichte den ersten WM-Titel. Ganz genau können Sie sich aber nicht mehr daran erinnern, richtig?
Leider war es nur ein sehr flüchtiger Moment, er war kurz da und dann schon wieder weg. Es ging da um hundertstel Sekunden. Und mittlerweile haben sich natürlich die Fernsehbilder besser in mein Hirn gebrannt. Wie sich Idgie Lingor die Haare zurechtrückt und dann meinen Namen ruft. In Frankfurt hatten wir es auch so praktiziert und in der Vorbereitung wahnsinnig viel trainiert. Das war kein reiner Zufall.
Sie haben nachher gesagt, manche Kollegin hätte Ihnen das Tor geneidet.
Dass andere dieses Tor auch gerne gemacht hätten, ist ja normal. Die Aufmerksamkeit war darüber hinaus nicht fair verteilt. Ich hatte gerade mal etwas mehr als 90 Minuten im ganzen Turnier gespielt - und stand plötzlich im Rampenlicht. Ich spürte eine gewisse Befangenheit im Miteinander. Ich wusste nicht so recht, wie ich mit der Situation, den Anfragen von TV-Shows und Sponsoren umgehen sollte. Und war mir auf einmal unsicher im Umgang mit Spielerinnen, die ich teilweise ja schon jahrelang gekannt hatte.
13,58 Millionen Menschen saßen in Deutschland vor dem Fernseher, als Sie das goldene Tor köpften. Trotzdem sagte Theune danach im kicker-Interview: "Wir können ein bisschen Schwung mitgeben (für den Fußball der Frauen in Deutschland, d. Red.), aber das wird leider erfahrungsgemäß nicht lange anhalten."
Tina hatte ihre Erfahrungen gemacht. Deutschland war ja vorher schon erfolgreich gewesen, gerade europäisch. Danach hatte sich vielleicht nicht der gewünschte Effekt eingestellt. Ganz so schlecht ist es nach dem Turnier 2003 aber aus meiner Sicht nicht gelaufen. Vielleicht weil es ein WM-Titel war, zudem der erste. Es wurde deutlich normaler, dass Mädchen Fußball spielen. Gerade bis zur WM 2011 gab es eine wahnsinnige Entwicklung.
Und die hat sich Schritt für Schritt fortgesetzt, wie auch bei der WM in diesem Sommer zu sehen war. Das Leistungslevel ist international insgesamt deutlich gestiegen, Deutschland schied aber krachend in der Vorrunde aus. Warum? Und was muss passieren, damit die DFB-Elf wieder in die Weltspitze vorstößt?
Viele Dinge haben nicht zusammengepasst. Ich könnte nun über Kaderentscheidungen oder die spielerische Herangehensweise reden. Vor allem ein Aspekt ist mir aber wichtig, gerade wenn ich an die 2003er Mannschaft denke: Wir haben zwar Gesichter im Team, und die brauchen wir. Aktuell gehen uns aber die Leader und Typen ab. Spielerinnen mit der Fähigkeit, Widerstände zu überwinden. Da ist noch Alex Popp zu nennen, aber ansonsten? Wir haben diese Siegermentalität und die Ausstrahlung ein wenig verloren. Im Moment rechnen sich die Gegner etwas aus, wie zuletzt Dänemark (0:2).
Nun wird seit Wochen auf die WM-Analyse des DFB gewartet. Martina Voss-Tecklenburg ist weiterhin krankgeschrieben. Zumindest interimsweise übernimmt jetzt - wie schon 2018 - Horst Hrubesch den Bundestrainerposten. Was halten Sie von diesem Schritt?
Für den DFB ist er eine sehr gute Zwischenlösung - finanziell und von der Verfügbarkeit her. Er kennt einige Spielerinnen noch, besitzt aufgrund seiner Vergangenheit Kredit. Außerdem läuft man nicht Gefahr, ihn zu verbrennen. Bei einer anderen, ganz neuen Person wäre das im Falle eines Misserfolgs wohl anders gewesen. Horst Hrubesch ist bekannt dafür, dass er sehr schnell einen guten Draht aufbauen und mit seiner Art und Ansprache auf das Team und jede einzelne Spielerin positiv einwirken kann. Das ist es, was das Team jetzt benötigt. Und für den DFB bringt das Ganze Zeit, um die Besetzung der Sportdirektion voranzutreiben. Der Sportdirektor oder die Sportdirektorin ist dann sicherlich maßgeblich in der Verantwortung, was die endgültige Klärung der Trainerinnenfrage angeht. Ob es mit Martina Voss-Tecklenburg weitergeht oder nicht, ist ja weiterhin nicht geklärt. Ich halte eine Rückkehr von ihr allerdings für sehr unwahrscheinlich.
Sollte es so kommen und Voss-Tecklenburg nicht wieder von Horst Hrubesch übernehmen - bevorzugen Sie in diesem Fall eine interne Lösung, also einen Fußballlehrer oder eine Fußballlehrerin, der oder die sich mit dem Fußball der Frauen schon bestens auskennt?
Wir müssen natürlich vorsichtig sein: Martina ist krankgeschrieben und im Amt. Da gehört es sich nicht, groß zu spekulieren. Sollte es so kommen, dass der Posten frei wird, kommt es aber natürlich vor allem auf die Qualifikation an. Ich schließe nicht aus, dass diesen Posten jemand ausfüllen kann, der noch nicht mit dem Frauenfußball in Berührung gekommen ist. Vermutlich wird es am Ende aber ohnehin eine Person, die vielleicht nicht jede einzelne Anforderung beziehungsweise das Profil vollständig erfüllt. So ist es doch meistens. Die ideale Lösung gibt es selten. Trotzdem kann das Gesamtpaket stimmen.
Auf der Suche nach einer langfristigen Lösung ist die Auswahl an deutschen Kandidatinnen für den Trainerinnenposten klein. Besteht ein Problem auf dieser Ebene?
Es gibt auf jeden Fall Frauen, denen ich es zutraue, Bundestrainerin zu werden. Es gibt vielleicht insgesamt noch nicht so viele Trainerinnen und es sollten mehr werden, aber es gibt sie und es kommen Trainerinnen nach - ohne hier jetzt Namen zu nennen. Darüber hinaus muss man schauen, ob der DFB mal einen ähnlichen Weg wie zum Beispiel England geht und ins Ausland schauen will - die Niederländerin Sarina Wiegman macht da bekanntlich einen herausragenden Job. Und: Es wird entscheidend sein, in welchem Horizont nun gedacht wird. Bei den Männern ist Julian Nagelsmann erst mal angestellt worden, um die EM 2024 mit dem Nationalteam zu absolvieren. Danach läuft sein Vertrag aus. Welche Lösung wird es für die Frauen geben? Aus meiner Sicht braucht es für die EM 2025 schon jetzt strategische Entscheidungen. Auch wenn es derzeit ein schmaler Grat ist.
Inwiefern?
Wir haben einerseits die Nations League, an der die Qualifikation für Olympia hängt. Andererseits wird danach die Euro stattfinden. Es geht also zum einen darum, jedes Spiel einzeln zu betrachten und kurzfristig erfolgreich zu sein. Zum anderen muss allerdings bereits geschaut werden, wie der Kader mittel- und langfristig aussehen soll. Welche Spielphilosophie soll entwickelt beziehungsweise umgesetzt werden? Welche Spielerinnen müssen entwickelt werden? Auf welchen Positionen müssen Spielerinnen gezielt gefördert werden? Wo besteht Bedarf? Über die Außenverteidigerinnen haben wir ja zuletzt viel gesprochen. Man muss sich die Altersstruktur ansehen, schauen, wer vielleicht verletzungsanfälliger ist und wo Alternativen nötig sind. All das sind Fragen, die nicht in den Hintergrund rücken sollten - trotz der Herausforderungen, die gerade unmittelbar bevorstehen.
Joti Chatzialexiou, aktuell Sportlicher Leiter Nationalmannschaften, kritisierte nach der verkorksten WM auch die Nachwuchsarbeit. In der Spitze sei zu wenig Breite. Ist die Lage wirklich so dramatisch?
Für mich ist es schwierig zu beurteilen. Ich bekomme schon ab und an die Rückmeldung, dass wir im Nachwuchs gut aufgestellt sind. Aber es ist ja kein ganz neues Thema. Was zum Beispiel in Spanien in den U-Mannschaften geleistet wird, ist schon beachtlich. Ich mag allerdings nicht immer Schwarz und Weiß sehen. Ich bin zum Beispiel auch nicht so skeptisch, was die angestoßenen Neuerungen anbelangt. Ich habe selbst fußballspielende Kinder und kann Funino (dem Kleinfeldspiel auf mehrere Tore, d. Red.) viel abgewinnen. Ich sehe auch, mit wie viel Motivation die Verantwortlichen um den neuen Nachwuchsdirektor Hannes Wolf an die Sache rangehen. Und würde mir wünschen, dass sie die Chance bekommen, Veränderungen zu bewirken. Klar, das wird sich erst finden und einspielen müssen. Dass der neue Direktor für Jungen und Mädchen zuständig ist, muss aber glaube ich auch noch ein wenig in alle Köpfe.
Welche Qualitäten muss die Person haben, die die neue Rolle als Direktor Frauenfußball ausfüllen wird?
Sie braucht ein sehr breites Profil, muss das Bindeglied zwischen dem sportlichen Bereich - den Nationalteams, den Vereinen - und auch der Geschäftsführung sein und ist für die strategische Ausrichtung verantwortlich. Meines Erachtens benötigt sie insbesondere starke kommunikative Fähigkeiten und Präsenz - nach innen, aber auch nach außen. Es zeugt von einer guten Entwicklung, dass auch für diesen Bereich ein Posten geschaffen wurde. Diesen Posten zu besetzen und dann im nächsten Schritt eine langfristige Lösung auf der Trainerinnenposition zu finden, wäre natürlich idealtypisch gewesen. Das war aber angesichts des Zeitdrucks mit den nächsten Nations-League-Duellen Ende Oktober und der ungeklärten Situation um Martina Voss-Tecklenburg nicht möglich. Nun bleibt abzuwarten, welcher Sportdirektor, welche Sportdirektorin verpflichtet wird - und wer dann auf lange Sicht das Team an der Seitenlinie betreut.
Also bleiben weiterhin einige offene Fragen. Sind Sie aktuell insgesamt guter Dinge, wenn Sie auf den DFB blicken?
Es sind natürlich riesige Herausforderungen. Ich versuche bei aller Kritik, die der DFB zurecht einstecken muss, auch immer die andere Perspektive einzunehmen. In vielen Bereichen kenne ich dort Leute, ich weiß, dass da auch sehr gute Arbeit geleistet wird. Und klar: In jeder großen Organisation ist es problematisch, wenn Schlüsselpositionen vakant sind. Je länger eine solche Situation andauert, desto ungünstiger ist das. Ich sehe den Willen, Lösungen zu finden, Struktur und Ruhe reinzubringen. Die Aufgaben sind aber natürlich enorm.
Interview: Leon Elspaß
Quelle
Beitrag der früheren kicker-Redakteurin Jana Wiske
Von wegen stabile Seitenlage: "Sie fliegen morgen nach Los Angeles"
2003 gewann die deutsche Frauen-Nationalmannschaft zum ersten Mal den WM-Titel. Jana Wiske, die als kicker-Redakteurin von 2001 bis 2011 den Fußball der Frauen beim Fachmagazin betreute, erinnert sich an den Tag des Titels.
Große Emotionen: Die deutschen Frauen-Nationalmannschaft holt den WM-Titel 2003. picture-alliance / ASA
Ich saß schlaftrunken im Büro. In der Nacht hatte noch ich das WM-Halbfinale der Frauen live im TV verfolgt - Deutschland hatte völlig überraschend 3:0 gegen den haushohen Favoriten und Gastgeber USA gewonnen. Kurz nach neun schrillte an diesem Montagmorgen mein Telefon in der kicker-Zentrale. Und die Chefsekretärin Gaby Gehrold verlor nur wenige Worte: "Komm sofort ins Büro von Rainer Holzschuh."
Ich rechnete mit dem Schlimmsten, ging gedanklich noch mal die stabile Seitenlage durch. Als ich beim damaligen Chefredakteur ankam, begrüßte er mich mit dem Satz: "Sie fliegen morgen nach Los Angeles."
Dabei hatte der kicker eigentlich entschieden, die WM 2003 in den USA nicht vor Ort zu besetzen. Zu gering waren Leser-Nachfrage und Erfolgsaussichten. So führte ich als verantwortliche Redakteurin bis zu diesem besagten Montagmorgen Telefoninterviews zu deutschen Unzeiten mit durchaus bereitwilligen Spielerinnen. Nach dem erstmaligen Einzug der DFB-Frauen in ein WM-Finale änderte sich das.
Am Flughafen in Los Angeles musste ich mir für viel Geld ein Mobiltelefon mieten, weil deutsche Handys damals nicht US-kompatibel waren. Navigationssysteme gab es nicht. Und so suchte ich mithilfe einer Mischung aus Orientierungssinn, Straßenkarten und Glück im abendlichen Los Angeles meinen Weg zum Mannschaftshotel.
Der DFB ermöglichte mir damals tatsächlich um 21 Uhr ein Interview mit Kapitänin Birgit Prinz. Durch die Zeitverschiebung musste das Gespräch noch an meinem Anreisetag stattfinden, damit es den Weg in die Printausgabe des Donnerstags-kicker schaffte. Eine Autorisierung von DFB-Seite war damals überhaupt kein Thema. Nur eine Handvoll Journalisten begleitete die deutsche Mannschaft 2003 über den großen Teich. Dass nun der kicker extra jemanden zum Finale schickte, wurde von Verbands- und Spielerinnen-Seite extrem positiv aufgenommen.
Jürgen Klinsmann in die Arme gelaufen
Das Endspiel sollte im Stadion in Carson stattfinden, Einzugsgebiet Los Angeles und heute Heimat von LA Galaxy. Beim Abschlusstraining der Spielerinnen lief ich direkt Jürgen Klinsmann in die Arme. Der Weltmeister von 1990 wohnte nur wenige Kilometer entfernt und besorgte sich gerade Tickets fürs Endspiel. Zu Hause in Deutschland wurde für die Live-Übertragung in der ARD sogar der Tatort nach hinten geschoben.
Auch die Kulisse zur Mittagszeit vor Ort im Stadion mit über 25.000 Fans war beeindruckend - allerdings auch typisch amerikanisch: Hauptaugenmerk auf den Snacks, weniger auf dem Sportgeschehen. Ich erinnere mich an die Skepsis auf der Pressetribüne nach dem 0:1 der Schwedinnen kurz vor der Pause. Der Rest ist Geschichte …
Alle tanzten bis tief in die Nacht
Die ausgelassene Party der deutschen Spielerinnen zusammen mit den unterlegenen Skandinavierinnen danach im Mannschaftshotel konnte sich sehen lassen. Es war bei großen Turnieren der Frauen lange üblich, ein gemeinsames Hotel zu beziehen. Die Medienvertreter waren vor 20 Jahren ebenfalls (noch) gern gesehene Feiergäste. Und so tanzten wir alle vor den Augen von DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder bis tief in die Nacht …
Dieser deutsche WM-Titel ist für mich so etwas wie die Initialzündung: Ab diesem Zeitpunkt war der Frauenfußball in Deutschland sichtbar. Nicht nur eingefleischte Fans kennen bis heute Spielerinnen wie eben Prinz, Nia Künzer oder Silke Rottenberg. Nicht nur der kicker hat seitdem alle großen Turniere besetzt, die Frauen-Bundesliga wird heute medial live übertragen, Länderspiele sowieso - und viele Spielerinnen können tatsächlich vom Fußball leben. Ein WM-Titel aber scheint derzeit weit entfernt.
Die frühere kicker-Redakeurin Jana Wiske (48) betreute von 2001 bis 2011 den Fußball der Frauen beim Fachmagazin. Seit 2017 ist sie Professorin an der Hochschule Ansbach, lehrt in den Studiengängen Ressortjournalismus und PR/Unternehmenskommunikation.
Jana Wiske
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"Habe das Gefühl, dass die Mannschaft einen Neustart benötigt"
Prinz hört als DFB-Teampsychologin auf
Die deutsche Frauen-Nationalmannschaft macht gerade einen größeren Umbruch durch. Das wird auch durch den Rücktritt der Teampsychologin Birgit Prinz deutlich.
Ab sofort nur noch für die TSG Hoffenheim tätig: Birgit Prinz. IMAGO/Beautiful Sports
Wenn Horst Hrubesch im Nations-League-Heimspiel gegen Wales (27. Oktober, 17.45 Uhr, LIVE! bei kicker) an die Seitenlinie der DFB-Frauen zurückkehrt, wird er nicht mehr auf die Unterstützung einer prominenten Kollegin bauen können. Birgit Prinz hat ihr Amt als Teampsychologin mit sofortiger Wirkung niedergelegt. Das vermeldete der DFB am Freitagmorgen.
"Ich habe das Gefühl, dass die Mannschaft einen Neustart benötigt, um wieder zu ihrer Stärke finden zu können", lässt sich die 45-Jährige zitieren. "Ich sehe hier so viel Potenzial, tolle Menschen und spielerische Fähigkeiten. Für die bevorstehenden großen Aufgaben wünsche ich dem Team von Herzen viel Erfolg."
Prinz vermeidet einen Platz in der ersten Reihe
Prinz prägte als Rekordnationalspielerin (214 Länderspiele) und Rekordtorschützin (128 Tore) die DFB-Elf über viele Jahre. Nach ihrem Karriereende 2013 begann die ausgebildete Physiotherapeutin ein Studium der Psychologie, das sie mit Diplom abschloss.
Seit 2012 arbeitet Prinz als Sportpsychologin bei der TSG Hoffenheim, seit 2019 unterstützte sie zusätzlich die Frauen-Nationalmannschaft. Aus der ersten Reihe hält sich die ehemalige Weltklasse-Stürmerin dabei auffällig heraus, vermeidet Interviews und Pressekonferenzen seit Jahren.
Joti Chatzialexiou, Sportlicher Leiter der DFB-Nationalmannschaften, sagt: "Ich bedauere die Entscheidung von Birgit und möchte ihr im Namen des gesamten Teams herzlich danken. Wir haben Sie für Ihre fachliche Kompetenz, kombiniert mit ihrem fußballerischen Verständnis sowie als Mensch sehr geschätzt. Sie war für uns eine stets wichtige Ansprechpartnerin."
pab
Quelle
Künzer über ersten WM-Titel 2003: "Spielten morgens um 5 auf einem Parkplatz"
Ihren Job als ARD-Expertin gab sie unlängst auf, den Fußball behält sie weiterhin im Blick. Mit dem kicker schaut Nia Künzer zurück auf den ersten WM-Titel der DFB-Frauen. Dieser jährt sich an diesem Donnerstag zum 20. Mal.
Blick zurück auf die WM 2003 und den ersten Titel: Nia Künzer. IMAGO/Ulrich Hufnagel
Ende Juni fanden Sie und das Gros der restlichen Weltmeisterinnen sich mal alle zusammen. Welche Erinnerungen kamen da hoch, Frau Künzer?
Zuallererst war es eine sehr schöne Idee. Mit dem Team hatten wir uns gar nicht getroffen in all der Zeit. Zumindest die meisten mal wiedergesehen zu haben, um dann festzustellen, wie sehr so ein Erlebnis verbindet, war sehr schön. Tina Theune hatte ein paar Fotos dabei. Manche Dinge hat man gar nicht mehr so präsent, und wenn man dann miteinander spricht, kommen viele Details noch mal hoch.
Fangen wir ganz vorne an: Für Sie war es schon ein Erfolg, überhaupt im Kader zu stehen nach Ihrem damals schon dritten Kreuzbandriss.
Absolut. Überhaupt die Vorbereitung mitmachen zu können, war toll. Wir haben wochenlang hart gearbeitet. Bei den Sprints war ich gut dabei, nicht aber in Sachen Ausdauer. Also musste ich nach dem ohnehin schon langen Training, das teilweise zweieinhalb Stunden gedauert hat, immer noch sehr lange auslaufen. Morgens konnte ich manchmal kaum aufstehen wegen der Gliederschmerzen (lacht). Wenn man sich so gequält hat, will man natürlich auch mitfahren. Das hat dann zum Glück geklappt.
Sie waren Teil eines Aufgebots, das mit vielen prominenten Namen besetzt war. Spielerinnen wie Maren Meinert, Bettina Wiegmann, Silke Rottenberg oder Brigit Prinz - um nur ein paar zu nennen - , die für den deutschen Fußball der Frauen eine große Bedeutung besitzen.
Trotzdem sind wir nicht als der große Favorit angereist. Bei uns hat in diesem Jahr alles gepasst, jedes Puzzleteil. Wir hatten tolle Fußballerinnen und viele Typen im Kader. Maren Meinert war eine großartige Fußballerin, die Zeichen setzen konnte. Bettina Wiegmann spielte mit ihrer sehr ruhigen Art seit Jahren beständig auf ganz hohem Niveau. Silke Rottenberg machte im Halbfinale gegen die USA (3:0) vielleicht das Spiel ihres Lebens. Birgit Prinz zeigte ihre einmalige Dynamik und Effektivität vor dem Tor. Kurzum: Jede von uns hat schlicht und ergreifend das eingebracht, was sie einbringen konnte. Auf, aber auch neben dem Platz.
Es gab die sogenannte "Let's fetz"-Gruppe, in der die Ersatzspielerinnen noch mal separat trainierten. Dazu gehörten auch Sie. Wie ging es dort zu?
Zum einen versuchten wir natürlich, uns anzubieten. Zum anderen probierten wir alles, um von außen positiv einzuwirken. Das Paradebeispiel war das Halbfinale gegen die USA, den Gastgeber. Da gab es keine einzige Einwechslung. Trotzdem war es sehr, sehr intensiv für uns auf der Bank. Nachher haben wir selbst von den Spielerinnen auf dem Feld die Rückmeldung bekommen, dass sie uns wahrgenommen hatten, dass es ihnen geholfen hatte, in diesem Stadion, mit diesem Publikum, das komplett gegen uns gewesen war und fest mit einem Sieg der USA gerechnet hatte. Das ist eines der Spiele, das mir immer noch Gänsehaut bereitet, obwohl ich keine einzige Sekunde auf dem Platz stand. Jede hatte sich dem großen Ziel verschrieben - das macht ein Team aus.
Was zeichnete Bundestrainerin Tina Theune aus?
Sie war sehr, sehr akribisch, fleißig und analytisch. Sie hatte Videosequenzen vorbereitet, die uns teilweise bis zum Abwinken gezeigt wurden. Damals waren es keine einfachen Bedingungen - wir hatten keine Scouts, keine Athletiktrainer, ab und an war mal ein Torwart- oder ein Defensivtrainer dabei, ansonsten machten Tina und Silvia Neid (die damalige Co-Trainerin, d. Red.) alles selbst. Mit ganz viel Hingabe und Engagement. Heute noch habe ich zu Tina immer mal wieder Kontakt. Sie ist ein ganz wunderbarer Mensch und nach wie vor eine absolute Expertin. Ich zähle absolut auf ihre Meinung - egal in welchem Bereich.
Im Turnier gelang Deutschland ein glatter Durchmarsch - sechs Siege in sechs Spielen. Dennoch galt es, verschiedene Widerstände und Rückschläge zu überwinden.
Ein paar Themen waren da schon. Wir mussten mit viel Reisestress umgehen, spielten in Columbus, Washington, Portland und Carson. Im ersten Spiel gegen Kanada (4:1) gerieten wir gleich in Rückstand. Und gegen Argentinien (6:1) riss sich Steffi Jones, die von großer Bedeutung für uns war, das Kreuzband. Vor allem das drückte natürlich auf die Stimmung. Für Steffi war es furchtbar. Trotzdem sind wir fokussiert geblieben.
Wie erinnern Sie sich an das Finale gegen Schweden? Schon um zehn Uhr Ortszeit ging es damals los.
Für den TV-Markt in Europa war das natürlich von Vorteil, für uns aber durchaus skurril. In Carson waren wir in einem Gewerbegebiet untergebracht. Und um die eingeübten und erfolgreichen Abläufe auch vor diesem Finale einzuhalten, standen wir morgens um 5 Uhr auf und spielten fünf gegen zwei auf einem Parkplatz oder Parkdeck. Quasi mitten in der Nacht (lacht).
Wie erging es Ihnen in der Partie? Sie warteten bis zur 88. Minute auf Ihren Einsatz.
In meiner Erinnerung stand das Finale auf Messers Schneide. Von außen war es kaum auszuhalten. Allerdings, und jetzt kann ich es ja sagen: Meine Gefühle waren damals durchaus zwiespältig. Ich wollte zwar irgendwie dabei sein, es war aber nicht so, dass ich es mir sehnlich gewünscht habe, jetzt endlich eingewechselt zu werden. Die Anspannung war einfach sehr groß. Als mich Tina dann rief, gab sie mir noch den guten Hinweis: Sieh zu, dass hinten keins fällt und mach vorne eins (lacht). Da war der Druck noch mal größer. Und dann ging es los.
Flanke Renate Lingor, Kopfball Künzer - Ihr Golden Goal in der 98. Minute, zehn Minuten nach Ihrer Einwechslung, ermöglichte den ersten WM-Titel. Ganz genau können Sie sich aber nicht mehr daran erinnern, richtig?
Leider war es nur ein sehr flüchtiger Moment, er war kurz da und dann schon wieder weg. Es ging da um hundertstel Sekunden. Und mittlerweile haben sich natürlich die Fernsehbilder besser in mein Hirn gebrannt. Wie sich Idgie Lingor die Haare zurechtrückt und dann meinen Namen ruft. In Frankfurt hatten wir es auch so praktiziert und in der Vorbereitung wahnsinnig viel trainiert. Das war kein reiner Zufall.
Sie haben nachher gesagt, manche Kollegin hätte Ihnen das Tor geneidet.
Dass andere dieses Tor auch gerne gemacht hätten, ist ja normal. Die Aufmerksamkeit war darüber hinaus nicht fair verteilt. Ich hatte gerade mal etwas mehr als 90 Minuten im ganzen Turnier gespielt - und stand plötzlich im Rampenlicht. Ich spürte eine gewisse Befangenheit im Miteinander. Ich wusste nicht so recht, wie ich mit der Situation, den Anfragen von TV-Shows und Sponsoren umgehen sollte. Und war mir auf einmal unsicher im Umgang mit Spielerinnen, die ich teilweise ja schon jahrelang gekannt hatte.
13,58 Millionen Menschen saßen in Deutschland vor dem Fernseher, als Sie das goldene Tor köpften. Trotzdem sagte Theune danach im kicker-Interview: "Wir können ein bisschen Schwung mitgeben (für den Fußball der Frauen in Deutschland, d. Red.), aber das wird leider erfahrungsgemäß nicht lange anhalten."
Tina hatte ihre Erfahrungen gemacht. Deutschland war ja vorher schon erfolgreich gewesen, gerade europäisch. Danach hatte sich vielleicht nicht der gewünschte Effekt eingestellt. Ganz so schlecht ist es nach dem Turnier 2003 aber aus meiner Sicht nicht gelaufen. Vielleicht weil es ein WM-Titel war, zudem der erste. Es wurde deutlich normaler, dass Mädchen Fußball spielen. Gerade bis zur WM 2011 gab es eine wahnsinnige Entwicklung.
Und die hat sich Schritt für Schritt fortgesetzt, wie auch bei der WM in diesem Sommer zu sehen war. Das Leistungslevel ist international insgesamt deutlich gestiegen, Deutschland schied aber krachend in der Vorrunde aus. Warum? Und was muss passieren, damit die DFB-Elf wieder in die Weltspitze vorstößt?
Viele Dinge haben nicht zusammengepasst. Ich könnte nun über Kaderentscheidungen oder die spielerische Herangehensweise reden. Vor allem ein Aspekt ist mir aber wichtig, gerade wenn ich an die 2003er Mannschaft denke: Wir haben zwar Gesichter im Team, und die brauchen wir. Aktuell gehen uns aber die Leader und Typen ab. Spielerinnen mit der Fähigkeit, Widerstände zu überwinden. Da ist noch Alex Popp zu nennen, aber ansonsten? Wir haben diese Siegermentalität und die Ausstrahlung ein wenig verloren. Im Moment rechnen sich die Gegner etwas aus, wie zuletzt Dänemark (0:2).
Nun wird seit Wochen auf die WM-Analyse des DFB gewartet. Martina Voss-Tecklenburg ist weiterhin krankgeschrieben. Zumindest interimsweise übernimmt jetzt - wie schon 2018 - Horst Hrubesch den Bundestrainerposten. Was halten Sie von diesem Schritt?
Für den DFB ist er eine sehr gute Zwischenlösung - finanziell und von der Verfügbarkeit her. Er kennt einige Spielerinnen noch, besitzt aufgrund seiner Vergangenheit Kredit. Außerdem läuft man nicht Gefahr, ihn zu verbrennen. Bei einer anderen, ganz neuen Person wäre das im Falle eines Misserfolgs wohl anders gewesen. Horst Hrubesch ist bekannt dafür, dass er sehr schnell einen guten Draht aufbauen und mit seiner Art und Ansprache auf das Team und jede einzelne Spielerin positiv einwirken kann. Das ist es, was das Team jetzt benötigt. Und für den DFB bringt das Ganze Zeit, um die Besetzung der Sportdirektion voranzutreiben. Der Sportdirektor oder die Sportdirektorin ist dann sicherlich maßgeblich in der Verantwortung, was die endgültige Klärung der Trainerinnenfrage angeht. Ob es mit Martina Voss-Tecklenburg weitergeht oder nicht, ist ja weiterhin nicht geklärt. Ich halte eine Rückkehr von ihr allerdings für sehr unwahrscheinlich.
Sollte es so kommen und Voss-Tecklenburg nicht wieder von Horst Hrubesch übernehmen - bevorzugen Sie in diesem Fall eine interne Lösung, also einen Fußballlehrer oder eine Fußballlehrerin, der oder die sich mit dem Fußball der Frauen schon bestens auskennt?
Wir müssen natürlich vorsichtig sein: Martina ist krankgeschrieben und im Amt. Da gehört es sich nicht, groß zu spekulieren. Sollte es so kommen, dass der Posten frei wird, kommt es aber natürlich vor allem auf die Qualifikation an. Ich schließe nicht aus, dass diesen Posten jemand ausfüllen kann, der noch nicht mit dem Frauenfußball in Berührung gekommen ist. Vermutlich wird es am Ende aber ohnehin eine Person, die vielleicht nicht jede einzelne Anforderung beziehungsweise das Profil vollständig erfüllt. So ist es doch meistens. Die ideale Lösung gibt es selten. Trotzdem kann das Gesamtpaket stimmen.
Auf der Suche nach einer langfristigen Lösung ist die Auswahl an deutschen Kandidatinnen für den Trainerinnenposten klein. Besteht ein Problem auf dieser Ebene?
Es gibt auf jeden Fall Frauen, denen ich es zutraue, Bundestrainerin zu werden. Es gibt vielleicht insgesamt noch nicht so viele Trainerinnen und es sollten mehr werden, aber es gibt sie und es kommen Trainerinnen nach - ohne hier jetzt Namen zu nennen. Darüber hinaus muss man schauen, ob der DFB mal einen ähnlichen Weg wie zum Beispiel England geht und ins Ausland schauen will - die Niederländerin Sarina Wiegman macht da bekanntlich einen herausragenden Job. Und: Es wird entscheidend sein, in welchem Horizont nun gedacht wird. Bei den Männern ist Julian Nagelsmann erst mal angestellt worden, um die EM 2024 mit dem Nationalteam zu absolvieren. Danach läuft sein Vertrag aus. Welche Lösung wird es für die Frauen geben? Aus meiner Sicht braucht es für die EM 2025 schon jetzt strategische Entscheidungen. Auch wenn es derzeit ein schmaler Grat ist.
Inwiefern?
Wir haben einerseits die Nations League, an der die Qualifikation für Olympia hängt. Andererseits wird danach die Euro stattfinden. Es geht also zum einen darum, jedes Spiel einzeln zu betrachten und kurzfristig erfolgreich zu sein. Zum anderen muss allerdings bereits geschaut werden, wie der Kader mittel- und langfristig aussehen soll. Welche Spielphilosophie soll entwickelt beziehungsweise umgesetzt werden? Welche Spielerinnen müssen entwickelt werden? Auf welchen Positionen müssen Spielerinnen gezielt gefördert werden? Wo besteht Bedarf? Über die Außenverteidigerinnen haben wir ja zuletzt viel gesprochen. Man muss sich die Altersstruktur ansehen, schauen, wer vielleicht verletzungsanfälliger ist und wo Alternativen nötig sind. All das sind Fragen, die nicht in den Hintergrund rücken sollten - trotz der Herausforderungen, die gerade unmittelbar bevorstehen.
Joti Chatzialexiou, aktuell Sportlicher Leiter Nationalmannschaften, kritisierte nach der verkorksten WM auch die Nachwuchsarbeit. In der Spitze sei zu wenig Breite. Ist die Lage wirklich so dramatisch?
Für mich ist es schwierig zu beurteilen. Ich bekomme schon ab und an die Rückmeldung, dass wir im Nachwuchs gut aufgestellt sind. Aber es ist ja kein ganz neues Thema. Was zum Beispiel in Spanien in den U-Mannschaften geleistet wird, ist schon beachtlich. Ich mag allerdings nicht immer Schwarz und Weiß sehen. Ich bin zum Beispiel auch nicht so skeptisch, was die angestoßenen Neuerungen anbelangt. Ich habe selbst fußballspielende Kinder und kann Funino (dem Kleinfeldspiel auf mehrere Tore, d. Red.) viel abgewinnen. Ich sehe auch, mit wie viel Motivation die Verantwortlichen um den neuen Nachwuchsdirektor Hannes Wolf an die Sache rangehen. Und würde mir wünschen, dass sie die Chance bekommen, Veränderungen zu bewirken. Klar, das wird sich erst finden und einspielen müssen. Dass der neue Direktor für Jungen und Mädchen zuständig ist, muss aber glaube ich auch noch ein wenig in alle Köpfe.
Welche Qualitäten muss die Person haben, die die neue Rolle als Direktor Frauenfußball ausfüllen wird?
Sie braucht ein sehr breites Profil, muss das Bindeglied zwischen dem sportlichen Bereich - den Nationalteams, den Vereinen - und auch der Geschäftsführung sein und ist für die strategische Ausrichtung verantwortlich. Meines Erachtens benötigt sie insbesondere starke kommunikative Fähigkeiten und Präsenz - nach innen, aber auch nach außen. Es zeugt von einer guten Entwicklung, dass auch für diesen Bereich ein Posten geschaffen wurde. Diesen Posten zu besetzen und dann im nächsten Schritt eine langfristige Lösung auf der Trainerinnenposition zu finden, wäre natürlich idealtypisch gewesen. Das war aber angesichts des Zeitdrucks mit den nächsten Nations-League-Duellen Ende Oktober und der ungeklärten Situation um Martina Voss-Tecklenburg nicht möglich. Nun bleibt abzuwarten, welcher Sportdirektor, welche Sportdirektorin verpflichtet wird - und wer dann auf lange Sicht das Team an der Seitenlinie betreut.
Also bleiben weiterhin einige offene Fragen. Sind Sie aktuell insgesamt guter Dinge, wenn Sie auf den DFB blicken?
Es sind natürlich riesige Herausforderungen. Ich versuche bei aller Kritik, die der DFB zurecht einstecken muss, auch immer die andere Perspektive einzunehmen. In vielen Bereichen kenne ich dort Leute, ich weiß, dass da auch sehr gute Arbeit geleistet wird. Und klar: In jeder großen Organisation ist es problematisch, wenn Schlüsselpositionen vakant sind. Je länger eine solche Situation andauert, desto ungünstiger ist das. Ich sehe den Willen, Lösungen zu finden, Struktur und Ruhe reinzubringen. Die Aufgaben sind aber natürlich enorm.
Interview: Leon Elspaß
Quelle
Beitrag der früheren kicker-Redakteurin Jana Wiske
Von wegen stabile Seitenlage: "Sie fliegen morgen nach Los Angeles"
2003 gewann die deutsche Frauen-Nationalmannschaft zum ersten Mal den WM-Titel. Jana Wiske, die als kicker-Redakteurin von 2001 bis 2011 den Fußball der Frauen beim Fachmagazin betreute, erinnert sich an den Tag des Titels.
Große Emotionen: Die deutschen Frauen-Nationalmannschaft holt den WM-Titel 2003. picture-alliance / ASA
Ich saß schlaftrunken im Büro. In der Nacht hatte noch ich das WM-Halbfinale der Frauen live im TV verfolgt - Deutschland hatte völlig überraschend 3:0 gegen den haushohen Favoriten und Gastgeber USA gewonnen. Kurz nach neun schrillte an diesem Montagmorgen mein Telefon in der kicker-Zentrale. Und die Chefsekretärin Gaby Gehrold verlor nur wenige Worte: "Komm sofort ins Büro von Rainer Holzschuh."
Ich rechnete mit dem Schlimmsten, ging gedanklich noch mal die stabile Seitenlage durch. Als ich beim damaligen Chefredakteur ankam, begrüßte er mich mit dem Satz: "Sie fliegen morgen nach Los Angeles."
Dabei hatte der kicker eigentlich entschieden, die WM 2003 in den USA nicht vor Ort zu besetzen. Zu gering waren Leser-Nachfrage und Erfolgsaussichten. So führte ich als verantwortliche Redakteurin bis zu diesem besagten Montagmorgen Telefoninterviews zu deutschen Unzeiten mit durchaus bereitwilligen Spielerinnen. Nach dem erstmaligen Einzug der DFB-Frauen in ein WM-Finale änderte sich das.
Am Flughafen in Los Angeles musste ich mir für viel Geld ein Mobiltelefon mieten, weil deutsche Handys damals nicht US-kompatibel waren. Navigationssysteme gab es nicht. Und so suchte ich mithilfe einer Mischung aus Orientierungssinn, Straßenkarten und Glück im abendlichen Los Angeles meinen Weg zum Mannschaftshotel.
Der DFB ermöglichte mir damals tatsächlich um 21 Uhr ein Interview mit Kapitänin Birgit Prinz. Durch die Zeitverschiebung musste das Gespräch noch an meinem Anreisetag stattfinden, damit es den Weg in die Printausgabe des Donnerstags-kicker schaffte. Eine Autorisierung von DFB-Seite war damals überhaupt kein Thema. Nur eine Handvoll Journalisten begleitete die deutsche Mannschaft 2003 über den großen Teich. Dass nun der kicker extra jemanden zum Finale schickte, wurde von Verbands- und Spielerinnen-Seite extrem positiv aufgenommen.
Jürgen Klinsmann in die Arme gelaufen
Das Endspiel sollte im Stadion in Carson stattfinden, Einzugsgebiet Los Angeles und heute Heimat von LA Galaxy. Beim Abschlusstraining der Spielerinnen lief ich direkt Jürgen Klinsmann in die Arme. Der Weltmeister von 1990 wohnte nur wenige Kilometer entfernt und besorgte sich gerade Tickets fürs Endspiel. Zu Hause in Deutschland wurde für die Live-Übertragung in der ARD sogar der Tatort nach hinten geschoben.
Auch die Kulisse zur Mittagszeit vor Ort im Stadion mit über 25.000 Fans war beeindruckend - allerdings auch typisch amerikanisch: Hauptaugenmerk auf den Snacks, weniger auf dem Sportgeschehen. Ich erinnere mich an die Skepsis auf der Pressetribüne nach dem 0:1 der Schwedinnen kurz vor der Pause. Der Rest ist Geschichte …
Alle tanzten bis tief in die Nacht
Die ausgelassene Party der deutschen Spielerinnen zusammen mit den unterlegenen Skandinavierinnen danach im Mannschaftshotel konnte sich sehen lassen. Es war bei großen Turnieren der Frauen lange üblich, ein gemeinsames Hotel zu beziehen. Die Medienvertreter waren vor 20 Jahren ebenfalls (noch) gern gesehene Feiergäste. Und so tanzten wir alle vor den Augen von DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder bis tief in die Nacht …
Dieser deutsche WM-Titel ist für mich so etwas wie die Initialzündung: Ab diesem Zeitpunkt war der Frauenfußball in Deutschland sichtbar. Nicht nur eingefleischte Fans kennen bis heute Spielerinnen wie eben Prinz, Nia Künzer oder Silke Rottenberg. Nicht nur der kicker hat seitdem alle großen Turniere besetzt, die Frauen-Bundesliga wird heute medial live übertragen, Länderspiele sowieso - und viele Spielerinnen können tatsächlich vom Fußball leben. Ein WM-Titel aber scheint derzeit weit entfernt.
Die frühere kicker-Redakeurin Jana Wiske (48) betreute von 2001 bis 2011 den Fußball der Frauen beim Fachmagazin. Seit 2017 ist sie Professorin an der Hochschule Ansbach, lehrt in den Studiengängen Ressortjournalismus und PR/Unternehmenskommunikation.
Jana Wiske
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"Habe das Gefühl, dass die Mannschaft einen Neustart benötigt"
Prinz hört als DFB-Teampsychologin auf
Die deutsche Frauen-Nationalmannschaft macht gerade einen größeren Umbruch durch. Das wird auch durch den Rücktritt der Teampsychologin Birgit Prinz deutlich.
Ab sofort nur noch für die TSG Hoffenheim tätig: Birgit Prinz. IMAGO/Beautiful Sports
Wenn Horst Hrubesch im Nations-League-Heimspiel gegen Wales (27. Oktober, 17.45 Uhr, LIVE! bei kicker) an die Seitenlinie der DFB-Frauen zurückkehrt, wird er nicht mehr auf die Unterstützung einer prominenten Kollegin bauen können. Birgit Prinz hat ihr Amt als Teampsychologin mit sofortiger Wirkung niedergelegt. Das vermeldete der DFB am Freitagmorgen.
"Ich habe das Gefühl, dass die Mannschaft einen Neustart benötigt, um wieder zu ihrer Stärke finden zu können", lässt sich die 45-Jährige zitieren. "Ich sehe hier so viel Potenzial, tolle Menschen und spielerische Fähigkeiten. Für die bevorstehenden großen Aufgaben wünsche ich dem Team von Herzen viel Erfolg."
Prinz vermeidet einen Platz in der ersten Reihe
Prinz prägte als Rekordnationalspielerin (214 Länderspiele) und Rekordtorschützin (128 Tore) die DFB-Elf über viele Jahre. Nach ihrem Karriereende 2013 begann die ausgebildete Physiotherapeutin ein Studium der Psychologie, das sie mit Diplom abschloss.
Seit 2012 arbeitet Prinz als Sportpsychologin bei der TSG Hoffenheim, seit 2019 unterstützte sie zusätzlich die Frauen-Nationalmannschaft. Aus der ersten Reihe hält sich die ehemalige Weltklasse-Stürmerin dabei auffällig heraus, vermeidet Interviews und Pressekonferenzen seit Jahren.
Joti Chatzialexiou, Sportlicher Leiter der DFB-Nationalmannschaften, sagt: "Ich bedauere die Entscheidung von Birgit und möchte ihr im Namen des gesamten Teams herzlich danken. Wir haben Sie für Ihre fachliche Kompetenz, kombiniert mit ihrem fußballerischen Verständnis sowie als Mensch sehr geschätzt. Sie war für uns eine stets wichtige Ansprechpartnerin."
pab
Quelle
Ich glaub ich bin eine Signatur
Denken ist die schwerste Aufgabe ...deshalb befassen sich so wenige damit!
Denken ist die schwerste Aufgabe ...deshalb befassen sich so wenige damit!