Club | 22.11.2022
Tuğba Tekkal im Interview
„Jede Menschenrechtsverletzung sollte uns etwas angehen“
Tuğba Tekkal ist Aktivistin. Sie ist Fußballerin, die den Sport von ganzem Herzen liebt. Acht Jahre hat sie für den 1. FC Köln gespielt. Noch heute ist sie eng mit dem Verein verbunden. Mit ihrem Projekt Scoring Girls hat sie ein Angebot geschaffen, das sich an Mädchen richtet, die keinen Zugang zum Vereinssport haben. Damit sich eine Gesellschaft nicht an Unrecht gewöhnt, hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, über gesellschaftliche Missstände aufzuklären und laut zu sein für Minderheiten.
Tuğba, als junges Mädchen hast du versteckt, dass du gern auf dem Fußballplatz stehst, weil es für Mädchen damals nicht üblich war. Mit deinem Projekt Scoring Girls setzt du dich insbesondere für die Rechte von Mädchen und jungen Frauen ein. Was ist das Ziel deines Engagements?
Tuğba Tekkal: „Dass junge Mädchen genau die Herausforderungen und Probleme, die ich hatte, zwanzig Jahre später nicht mehr haben. Das Ziel meiner Arbeit ist, dass all diese Dinge wie Selbstbestimmung, Freiheit und Mädchen, die Fußball spielen, ganz selbstverständlich werden.“
In der aktuellen Saison der Frauen-Fußballbundesliga gab es gleich beim Auftaktspiel mit 23.300 Zuschauerinnen und Zuschauern einen Rekord. Gibt dir das eine gewisse Motivation in deinem Handeln?
„Es freut mich sehr. Ich weiß noch, wie es zu meiner Zeit war. Dass wir uns immer gefreut haben, wenn wir mal die Tausendermarke geknackt haben. Vor allem sehe ich in den Gesichtern der Mädels, die ich bei den Scoring Girls trainiere, dass ein solcher Zuschauerzuspruch für sie etwas ganz Besonderes ist. Sie sehen dadurch etwas als selbstverständlich an, das es früher so nicht gab. Insofern gibt es mir sehr viel Motivation. Ich habe ein schönes Beispiel, von dem ich gerne erzählen möchte: Ich habe mit den Scoring Girls im Sommer in London ein EM-Gruppenspiel der Frauen besucht. Samstags war das Spiel der deutschen Frauen, freitags waren wir abends bei einem Public Viewing und haben ein Spiel der englischen Frauen angesehen. Als wir in den Veranstaltungsraum hereinkamen, waren dort unfassbar viele Menschen. Die Mädels haben Tränen in den Augen gehabt. Sie haben nicht glauben können, dass so viele Menschen vor den Bildschirmen sitzen, um sich ein Frauenspiel anzuschauen, weil sie das sonst nur von Männer-Spielen kennen. Durch solche Erlebnisse haben die Mädels etwas vor Augen, auf das sie hinarbeiten können. Etwas, das Jungs von klein auf schon haben.“
Die Frage, ob dich die Euphorie im vergangenen Sommer gefreut hat, hat sich ja damit bereits erübrigt…
„Ich denke auch, dass es deutlich geworden ist.“ (lacht)
Katar hat seit 2009 eine Frauenmannschaft, die noch kein einziges Pflichtspiel bestritten hat…
„Es gab einmal diese Frauennationalmannschaft, die heute nur noch auf dem Papier existiert. Sie haben seit vielen Jahren kein Spiel bestritten – auch damals waren es nur Freundschaftsspiele. Aus welchem Grund es diese Mannschaft gibt, ist sehr leicht zu erklären. Es gab die Vorgabe der FIFA, dass jedes Bewerber-Land eine Frauennationalmannschaft braucht. Das wurde kurz vor der Vergabe der WM umgesetzt. Monika Staab, ehemalige deutsche Fußballerin und Trainerin, war damals Nationaltrainerin in Katar. Sie hat alles aus erster Hand mitbekommen. Sie hat mir erzählt, dass damals kein ernsthaftes Interesse daran bestand, diese Mannschaft am Leben zu erhalten. Das ist ein Beispiel, das ganz deutlich zeigt, wie ernst es Katar mit seinen Reformen meint.“
In einer Talkshow hast du den schönen Satz gesagt: „Wir können nicht Fehler der Gegenwart mit Fehlern der Vergangenheit rechtfertigen.“ Passiert es häufig, dass dir Menschen mit dem sogenannten Whataboutism gegenübertreten, um gewisse Dinge zu rechtfertigen?
„Absolut. Das ist definitiv der einfachste Weg. Das Wichtigste dabei ist aber, dass wir dafür Sorge tragen, dass es eben nicht so lange dauert wie in der Vergangenheit, bis wir merken, dass etwas gewaltig schiefläuft. Der Zeitraum, bis etwas geändert wird, wird immer auf dem Rücken von Minderheiten ausgetragen und deshalb muss es unser aller Aufgabe sein, uns für die Rechte dieser Menschen einzusetzen.“
Was hättest du dir von deutschen Entscheidungsträgern im Vorfeld der WM in Katar gewünscht?
„Ich hätte mir definitiv mehr Transparenz und öffentliche Statements gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass der DFB seine Fans, die gerade sehr laut sind, mehr repräsentiert. Ich hätte mir gewünscht, unterschiedliche Stimmen auch neben dem Platz zu hören – eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem, was passiert ist. Viele vergessen das: Da sind Menschen gestorben, damit Leute Fußball spielen können! Ganze Familien wurden auseinandergerissen. Da sind junge Leute mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in ein Land gegangen – die Särge wurden zurückgeschickt. Bis heute wissen die Familien nicht, was genau passiert ist. Da sind Menschen vor Erschöpfung im Schlaf gestorben! Da mussten Menschen mitansehen, wie ihre Freunde gestorben sind. Es ist extrem wichtig, diese Geschichten immer wieder zu erzählen, aber das findet irgendwie viel zu wenig statt. Diesen Menschen müssen Gesichter und Geschichten gegeben werden. Das muss aufgearbeitet werden. Hinzu kommt, dass alle Reformen, die Katar ins Leben gerufen hat, erstmal nur für die WM-Baustellen gelten. Was ist mit den ganzen anderen Arbeitsmigrantinnen und -migranten?“
Wie könnten einzelne Spieler oder der Verband Druck ausüben?
„Ich würde von keinem Spieler erwarten, dass er diese Weltmeisterschaft boykottiert. Was ich aber ganz klar erwarte, sind eine Haltung und auch Statements. Leon Goretzka zum Beispiel macht das ja in Teilen schon. Zwar ist er bei der Weltmeisterschaft, aber das eine schließt das andere nicht aus. Man kann diesen Sport lieben, eine Weltmeisterschaft spielen und dennoch laut sein. Es gibt ganz viele junge Menschen, die darauf schauen, was diese Spieler sagen. Es bricht sich niemand einen Zacken aus der Krone, wenn sie auf Unrecht aufmerksam machen. Und das erwarte ich auch. Dass man diese große Bühne des Sports auch für Solidarität nutzt und sich öffentlich positioniert.“
Hast du das Gefühl, dass sich privilegierte Menschen, die keiner Randgruppe oder Minderheit angehören, an Unrecht gewöhnt haben?
„Ich für meinen Teil möchte das nicht und ich erwarte auch von jedem anderen Menschen auf diesem Planeten, dass er sich nicht an Unrecht gewöhnt. Deshalb habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, über Unrecht aufzuklären. Und genau deshalb ist es wichtig, dass darüber hinaus auch politische Entscheidungsträger, Verbände und Vereine laut sind.“
Was wäre ein konkretes Zeichen, das die deutsche Nationalmannschaft setzen könnte?
„Sie könnten in ihrer freien Zeit neben dem Platz aufklären. Menschen besuchen, mit ihnen reden und mit ihnen in den Austausch gehen und darüber berichten. Auf der Instagram-Seite des deutschen Teams sehe ich den Kader und Spaß-Videos. Die Auseinandersetzung findet nicht statt.“
Welche Reaktionen gibt es auf dein Engagement und auf deine Aufklärung zu gesellschaftlichen Missständen – vor allem in Bezug auf die WM in Katar?
„Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt sehr positive Resonanz von Menschen, die sich damit identifizieren können. Es gibt aber auch Leute, denen es nicht gefällt, wenn man sich für Minderheiten einsetzt und laut ist. Mich erreichen Drohungen und böse Anfeindungen. Es gibt tatsächlich Menschen, die schreiben, dass sie mir den Kopf abhacken würden, wenn sie mir auf offener Straße begegnen würden. Das sind Dinge, die mir zeigen, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich bin eine Minderheit in der Minderheit. Ich komme aus einer kurdisch-jesidischen Familie und ich musste mein Leben lang kämpfen und laut sein. Deshalb kannte ich auch immer diesen Gegenwind. Wenn es immer noch Menschen gibt, die sich daran stören, dass wir für eine bessere Welt kämpfen, dann zeigt das, dass wir weitermachen müssen.“
Was wünschst du dir für die Zeit nach der WM in Katar und ganz allgemein für deine Arbeit in der Zukunft?
„Ich wünsche mir, dass wir genauso wie in den vergangenen vier Wochen weitermachen und nicht so, wie in den vergangenen zwölf Jahren. Und, dass wir nicht erst damit anfangen, uns um Menschenrechte zu sorgen, wenn europäische Fans in Gefahr sind. Jede Menschenrechtsverletzung sollte uns etwas angehen.“
Wie bist du mit dem FC verbunden und was wünschst du dir im Hinblick auf all diese Themen vom Verein?
„Mit mir und dem 1. FC Köln war es Liebe auf den ersten Blick. Ich habe sehr viele Jahre für den Club gespielt und stehe ihm immer noch sehr nahe. Der Verein ist sehr offen, herzlich und menschlich. So habe ich den FC kennen- und lieben gelernt. Ich finde es wichtig, dass mein 1. FC Köln sich seiner Verantwortung bewusst ist. Der FC steht für Vielfalt. Ich wünsche mir, dass der Verein für das, wofür er steht, weiterhin laut ist und bleibt. Es ist wichtig, Haltung zu zeigen. Von meinem 1. FC Köln wünsche ich mir, dass er das, was er lebt, nach außen verkörpert.“
Fotocredits: Michael Romacker
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